
Einige Gründe, die für eine Pilgerreise sprechen
Warum Wandern so beliebt ist?
Die Via Francigena ist wie der Camino de Santiago als Pilgerroute bekannt. Rom und Santiago waren zusammen mit Jerusalem die wichtigsten mittelalterlichen Pilgerziele. Daher könnte man zu dem Schluss kommen, dass diese Route auch heute noch aus religiösen Gründen zurückgelegt wird. Dies ist jedoch keineswegs der Fall.

2009 begann ich mich für den spanischen Jakobsweg zu interessieren und arbeitete daher als Voluntär beim Najera-Hostel, der achten Etappe des Camino de Santiago. Zu diesem Anlass nahm ich eine Umfrage mit, die in Zusammenarbeit mit einer Forschungseinrichtung des Touring Club Italiano entwickelt wurde. Ich druckte 1000 Kopien und händigte sie den Jugendherbergsgästen aus. Die anonyme Umfrage stellte den Gäste die Frage, warum sie sich auf den Weg machten, wobei sie 8 mögliche Gründe je nach ihrer Bedeutung angeben konnten. Das Ergebnis war sehr interessant: Nur 20% der befragten Gäste gaben religiöse Motive als Hauptgrund an. Die beliebtesten Gründe waren hingegen die 'Liebe zur Natur' und zu 'Spanien', gefolgt von 'spirituellen (aber nicht unbedingt religiösen) Motiven', die 'Lust am Wandern', die 'Lust, neue Leute kennenzulernen' und 'die kulturellen Interessen'. Die religiösen Motive kamen nur an sechster Stelle. Zu den zahlreichen „anderen Gründen“ zählen: 'eine Herausforderung', 'eine persönliche Krise', 'ein Verlust' und viele andere mehr oder weniger ernsthafte Gründe.


Diese Umfrage bestätigt meine persönlichen Eindrücke. Diese bildeten sich im Laufe von unzähligen Begegnungen mit Wanderern entlang der Wegstrecken vor und nach dieser Recherche heraus und gelten für den Camino de Santiago sowie für viele Pilgerrouten, darunter die Via Francigena, die infolge des Erfolgs der spanischen Strecke überall in Europa an Bedeutung gewinnen.
Heute wandern Menschen aus vielen Gründen, und keiner wiegt mehr als der andere. Manche wandern, weil sie neugierig oder ruhelos sind oder um Antworten auf Fragen zu finden oder manchmal sogar um Fragen zu finden. Spiritualität und innere Suche spielen ebenso eine wichtige Rolle für laizistische Menschen, und das Wandern auf einer religiösen Pilgerroute ist der ideale Rahmen, um diesem besonderen Bedürfnis zu entsprechen. Letztendlich bietet das Wandern in diesen Krisenzeiten eine hervorragende Möglichkeit, auf den Niedergang der Grundpfeiler des westlichen Denkens, die Ungewissheit der Zukunft und das Fehlen von festen Gezugspunkten zu reagieren.
Das Wandern führt die Menschen zurück zur Einfachheit, es ist eine Verpflichtung zur Genügsamkeit, jeder Schritt ist eine Einladung dazu, unsere Werteskala zu überdenken. Ihr Rucksack wird zum Symbol der Last, die wir in unserem täglichen Leben auf unseren Schultern tragen müssen, und steht für die Sachgüter, von denen wir uns nicht trennen möchten und die zu einer schweren Last werden. Wir sollten unseren Rucksack entleeren, ein Kleidungsstück oder ein Paar Schuhe, die uns zur Last fallen, verschenken, wodurch wir unsere Schultern sofort Erleichterung verschaffen und jeden Schritt leichter machen.
Entlang einer Wanderung werden Teilen, Empathie und Solidarität zu einer Lebensform, einer Notwendigkeit. Einlang einer Wanderung entstehen tiefe Freundschaften innerhalb weniger Kilometer auf eine Art und Weise, die im Alltagsleben undenkbar wäre. Diese Freundschaften dauern oft noch Jahre fort, obgleich wir in verschiedenen Ländern leben. Aus diesen Gründen, aber auch aus vielen anderen, wandern heute so viele Menschen.
